Bettina Kümmerling-Meibauer: Fremdheit als Konzept. Das Motiv des fremden Kindes in der internationalen Kinderliteratur

Mit seinem Kindermärchen Das fremde Kind (1817) hat E.T.A. Hoffmann den romantischen Kindheitsdiskurs nachhaltig beeinflusst, indem er zeitgenössische Ideen der Kindheitspsychologie, Pädagogik und Philosophie integrierte. Zugleich postulierte er in den Rahmengesprächen der Serapionsbrüder (1819/20) eine kinderliterarische Poetik, deren Innovativität lange Zeit verkannt wurde. Hierbei spielt das Motiv des "fremden Kindes" eine wesentliche Rolle, wobei "Fremdheit" in mehrfacher Hinsicht verstanden wird. Dieser Begriff bezieht sich nicht nur auf die Abgrenzung von zwei Lebensphasen (Kindheit versus Erwachsensein), sondern auch auf unterschiedliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen, die sowohl kognitive als auch ästhetische Phänomene einbeziehen.
In meinem Vortrag werde ich zeigen, inwiefern "Fremdheit" als poetisches Konzept Hoffmanns Kindermärchen bestimmt, wobei sowohl genderspezifische als auch narratologische Aspekte diskutiert werden. Die Geschlechterperspektivierung beruht dabei auf drei unterschiedlichen Kategorien, die sich durch die mehrfach gespiegelte Sichtweise auf das fremde Kind ergeben, nämlich Neutralität, Identität und Transgression. Es wird darüber hinaus veranschaulicht, dass sich diese unterschiedlichen Perspektiven einerseits durch die Gegenüberstellung von Erwachsenenblick und Kinderblick und andererseits durch wechselnde Erzählerperspektiven ergeben.
Hoffmanns Kindermärchen, das in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurde, übt bis heute eine große Faszination auf die internationale Kinderliteratur aus. Deshalb werde ich abschließend anhand ausgewählter kinderliterarischer Werke aus Deutschland, England, Frankreich, Norwegen, Schweden, Spanien und den USA demonstrieren, welche Modifikationen und Modernisierungen das Motiv des fremden Kindes und das damit einhergehende Konzept der "Fremdheit" erfahren haben.